Perspektivwechsel – Ein Selbstversuch im Rollstuhlfahren

Bild: Cornelia Winter

Es gibt viele Gründe aus denen Menschen auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Ob durch Erkrankungen, als Schmerzpatienten oder Querschnittsgelähmte – für viele ist der Rollstuhl fester Bestandteil ihres täglichen Lebens. Manche von uns erfahren für kurze Zeit wie sich ein Leben auf vier Rädern anfühlt, zum Beispiel nach einer Operation. Für mich ist es jedoch ein völlig neues Gefühl die Stadt aus diesem Blickwinkel zu erkunden – ein echter Perspektivwechsel.

Die gemeinsame Einladung des Behindertenbeirates, der  Selbsthilfegruppe der Rollstuhlfahrer und der Beratungsstelle für „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ (EUTB) zu einem Selbstversuch im Rollstuhlfahren nehme ich daher gerne an. Wir starten vor dem Rathaus in Richtung Magniviertel. Schnell merke ich, wie anstrengend Rollstuhlfahren sein kann. Immer wieder bricht mein Gefährt aus. Selbst die zu Fuß eben erscheinenden Straßen sind plötzlich holprig. Es fühlt sich an, als ob man einen Einkaufswagen schiebt – nur dass man in dem normalerweise nicht selbst sitzt. Der erste niedrige Bordstein wird mir fast zum Verhängnis: obwohl er abgesenkt ist, komme ich nur mit Unterstützung hinüber. Aus der niedrigen Sitzposition habe ich einen völlig anderen Blickwinkel. So kann ich über parkende Autos nicht hinübersehen, andere Verkehrsteilnehmer sehe ich erst spät. Manche Passanten versperren mir unbeabsichtigt den Weg. Als wir an den Schloss-Arkaden ankommen stoße ich auf das nächste Problem: die Türen. Allein kann ich sie unmöglich öffnen, wieder bin ich auf die Hilfe Fremder angewiesen. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich mit dem Kinderwagen unterwegs war. Auch damals waren Türen ein Problem, jedoch ein lösbares. Schließlich konnte ich sie noch mit dem Rücken aufdrücken und den Kinderwagen hinter mir herziehen. Im Rollstuhl habe ich diese Möglichkeit nicht. Zwar gibt es bei vielen Gebäuden Hintereingänge, die sich von selbst öffnen, doch der Umweg ist weit und kräftezehrend. In den Geschäften sind die Theken so hoch, dass ich nicht heranreiche. Die Produkte in den oberen Reihen sind für mich unerreichbar. Auch hier muss ich um Hilfe bitten.

Die neue Situation wirft Fragen auf, die ich mir so noch nie gestellt habe. Zum Beispiel, ob man eine Einweisung in die Richtige Handhabung eines Rollstuhls bekommt. Unsere erfahrenen und kompetenten Begleiter*innen haben Antworten. Unsere Begleiterin vom EUTB erklärt mir, dass man nur mit viel Glück eine Einführung in den Gebrauch bekommt. Nur wenn zufällig jemand da ist, der weiß wie es geht und sich die Zeit nimmt es zu erklären, wird man auf die neue Bewegungsart vorbereitet. Sie erzählt mir auch, dass die Krankenkassen darüber entscheiden was für einen Rollstuhl man bekommt. Dabei geht es meist weniger um die individuellen Bedürfnisse sondern um das Budget. Nicht selten landen Betroffene so in einem Exemplar das zu groß für sie ist oder andere Unzulänglichkeiten aufweist. Wer das Geld hat, schafft sich vielleicht auf eigene Kosten einen passenden Rollstuhl an – alle anderen müssen mit dem Vorlieb nehmen, was ihnen bezahlt wird. Dabei handelt es sich ja nicht um einen Luxusgegenstand, sondern oft um die einzige Möglichkeit sich fortzubewegen. Als wir am Zielpunkt ankommen bin ich völlig erschöpft.

Die Erfahrung steckt mir noch Tage danach in den Knochen – nicht nur im übertragenden Sinn, sondern ganz wortwörtlich. Die ungewohnten Bewegungsmuster haben ihre Spuren hinterlassen. Aber ich weiß, dass ich in Zukunft Rollstuhlfahrer*innen mit anderen Augen sehen werde. Der Selbstversuch wird mir aber auch in meiner politischen Arbeit helfen. Denn nun kann ich besser nachvollziehen mit welchen Problemen Menschen im Rollstuhl tagtäglich konfrontiert werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Braunschweiger Altstadtmarkt. Bei der Umgestaltung der Bushaltestelle treffen viele Ansprüche aufeinander: die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrenden, aber auch Sehbehinderten, müssen in Einklang mit den Auflagen zum Denkmalschutz und ästhetischem Gesamtkonzept gebracht werden. Das ist oft keine leichte Aufgabe. Barrierefreiheit und die Erhaltung des historischen Stadtbildes stehen häufig im Gegensatz zueinander. Der Selbstversuch hilft mir zu verstehen, welche Faktoren für Rollstuhlfahrer besonders wichtig sind.